Frankfurter Rundschau | 13. Juni 2025 | Magazin – Politik
Rojava ist von Syriens neuen Machthabern und von der Türkei umzingelt –
die utopische Zukunft der kurdischen Autonomieverwaltung steht heute infrage.
Das laute Weinen einer Mutter, die einen letzten Blick auf den Holzsarg ihres Sohnes wirft, zerreißt die heiße Frühlingsluft. Männer schütten Erde auf den Sarg, ihr Schaufeln vermischt sich mit den Schreien der Frauen, die inmitten der Menschenmenge auf die Knie gefallen sind. Viele tragen das Porträt des Verstorbenen bei sich. Eine Antipersonenmine hatte den jungen kurdischen Kämpfer getötet. Auf dem Märtyrerfriedhof Kobanê ruhen Tausende Männer und Frauen wie er – heute wurden fünf weitere beerdigt. Die schiere Anzahl ihrer Fotos, mal in Uniform für den kurdischen Freiheitskampf, mal als stolze Zivilistinnen und Zivilisten, erinnert an den hohen Preis, den Rojava, die kurdische Autonomieverwaltung im Nordosten Syriens, stets für ihre Freiheit zahlen musste.
Im September 2014 umzingelten 8000 Dschihadisten des „Islamischen Staats“ (IS) mit Panzern und schwerer Artillerie die Stadt Kobanê. Die Bewaffneten der kurdischen YPG (Volksverteidigungseinheiten), der irakisch-kurdischen Peschmerga und internationaler Verbände schafften es, den IS nach fünf Monaten zurückzudrängen. Die kurdischen Kämpfer:innen der Schlacht von Kobanê wurden weltweit in den Medien gefeiert. Ein Jahrzehnt später erinnert ein zertrümmerter Stadtteil samt zerstörter Kanonen und Panzer des IS, noch immer an das Grauen. Der damalige Widerstand zementierte das Überleben der kurdischen Revolution in Rojava, die 2013 zur Machtübernahme der Autonomiebehörde geführt hatte – und mit ihr ein Streben nach Mitbestimmung, Gleichberechtigung und Nachhaltigkeit.
Doch die Zukunft der kurdischen Autonomie in Syrien steht weiter auf dem Spiel. Denn Kobanê ist nach wie vor umzingelt; von der Türkei im Norden und von der sogenannten „Syrischen Nationalen Armee“ (SNA) – im Westen und im Osten. Die einzige Straße, die noch vom Süden zum Rest Rojavas führt, wird von einem Erdwall geschützt und von zerstörten Panzern und abgebrannten Häusern flankiert. Türkische Kampfjets und Drohnen brummen täglich über der Region – vor einigen Monaten warfen sie noch Bomben ab, die Dutzende töteten.

„Ich saß hier auf einem Stuhl und aß ein Mortadellasandwich, als es auf einmal einen lauten Knall gab, alles bebte, und es lagen Stücke eines menschlichen Gehirns vor meinen Füßen“, erinnert sich Ayjan Kobani, 35, Musiker und Sänger aus Kobanê. Er steht auf der Tischrin-Talsperre am Euphrat, eine Stunde entfernt von Kobanê, die seit Monaten zur letzten Front des syrischen Bürgerkrieges geworden ist, und zeigt auf den von Bombeneinschlägen verkohlten Boden und die von den Flammen gewellten Autowracks auf der obersten Stufe des Staudamms. „Ich war selbst verwundet, habe aber geholfen, die Schwerverletzten und die Toten wegzutragen.“ 25 kurdische Zivilist:innen starben bei dem Angriff im Januar, getötet durch Drohnen der türkischen Armee oder ihrer SNA-Verbündeten. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch verurteilte den Angriff als Kriegsverbrechen.
Es herrscht Misstrauen gegenüber der Regierung
Die Getöteten waren mit Hunderten anderen zum Staudamm gekommen, um dort gegen den Einmarsch der SNA zu protestieren und den Damm vor einem türkischen Luftangriff zu schützen. Dutzende von ihnen, allesamt Frauen aus der 400 Kilometer entfernten Stadt Girkê Legê (Al-Muabbada), sitzen Ende April in einem Zimmer im Inneren des Staudammes. Die Wände sind geschmückt mit bunten Graffiti des kurdischen Widerstands, der Frauenrevolution und der „Märtyrer:innen“ der YPG und YPJ. Ayjan holt seinen Bizirq (ein traditionelles Saiteninstrument) aus seiner Tasche und spielt kurdische und arabische Volks- und Widerstandslieder. Die Frauen stimmen ein, klatschen laut – lauter Freude und Stolz. „Wir haben natürlich Angst vor den Drohnen, aber wir sind hier, damit unsere Kinder später in einem vereinten, friedlichen Syrien leben können – auch wenn wir dafür sterben müssen“, erklärt Scharifa, eine 51 Jahre alte Verwaltungsangestellte, wenige Tage vor dem offiziellen Waffenstillstand.
Als der ehemalige syrische Präsident und Diktator Baschar al-Assad im Dezember 2024 von syrischen Rebellen in Damaskus gestürzt wurde, dachten viele, der 14 Jahre lange Bürgerkrieg wäre damit zu Ende. Doch überfielen die Kämpfer der pro-türkischen SNA aus dem Westen die Stadt Manbidsch, die bisher unter kurdischer Kontrolle stand. Die kurdischen Truppen der Demokratischen Kräften Syriens (DKS) mussten sich daraufhin bis zur Tischrin-Talsperre zurückziehen. Hier verläuft jetzt die Front und die Grenze zwischen einem zweigeteilten Syrien. Auf der einen Seite der Westen und Süden unter Kontrolle der neuen Regierung Ahmad al-Scharaas, mit einem guten Verhältnis zur Türkei und der SNA. Auf der anderen Seite der Nordosten, wo die kurdische Autonomiebehörde von der Türkei als Ableger der PKK (Arbeiterpartei Kurdistans, die von den USA und der EU als Terrororganisation eingestuft wurde) betrachtet und als Erzfeind bekämpft wird.

Die Unterschiede zwischen der marxistisch-anarchistisch geprägten Autonomiebehörde und den Islamisten des Hayet Tahrir al-Scham (HTS) sind immens. Als Mazlum Abdi, Anführer der DKS, mit Ahmed al-Scharaa, Anführer der HTS und Interimspräsident der Arabischen Republik Syrien, am 10. März ein Abkommen unterzeichnete, wurde eine Brücke zwischen ihnen geschlagen. Aber wie die Zukunft aussehen soll, weiß keiner. „Wir sind ein friedliebendes Volk und wollen keinen Krieg, hoffentlich ist er jetzt vorüber – deswegen freuen wir uns über die Bestrebungen Mazlum Abdis und die Entscheidung Öcalans“, sagt Scharifa.
Der Anführer der kurdischen Autonomiebewegung, Abdullah „Apo“ Öcalan, hatte bereits im Februar die PKK in der Türkei dazu aufgerufen, die Waffen niederzulegen. Am 12. Mai kam es auch dazu: Der Generalkongress der PKK erklärte den historischen bewaffneten Kampf für die kurdische Unabhängigkeit in der Türkei für beendet und löste die PKK auf. An der der Tischrin-Talsperre kam es zu einem Waffenstillstand und einem Abkommen – die SNA wurde in die syrische Armee eingegliedert, die kurdischen Zivilist:innen haben den Damm verlassen, US-Truppen haben mit dem Bau einer neuen Basis am Damm begonnen, der nun von Fachleuten beider Seiten wieder instand gesetzt wird.
Dennoch gilt der Krieg für viele damit nicht als beendet, und die Einwohner:innen von Rojava sehen die Entwicklungen mit Misstrauen. „Öcalans Botschaft hat uns mit Freude erfüllt, denn eine politische Lösung ist immer besser als eine militärische – aber sie betrifft uns in Syrien nicht, weil wir uns wohl weiterhin verteidigen müssen,“ sagt eine 25-jährige Kämpferin der kurdischen Frauenverteidigungseinheiten YPJ, die den Namen Eleftheria benutzt.
Große Sorge vor patriarchalen Rückschlägen
Im dunklen Keller eines leerstehenden Hochhauses in Kobanê, unter einem Foto Öcalans sitzend, teilt sie mit ihren Mitstreiterinnen das Abendessen – scharfe Linsensuppe und Reis. Sie kämen wegen der Drohnenangriffe nur selten an die frische Luft, sagt sie und seien jederzeit bereit, sich in den Tunneln unter der Stadt zu verschanzen, um Abwehr zu leisten. „Für uns sind Ahmad al-Scharaa und die SNA dasselbe wie der IS: Islamisten, die uns nie akzeptieren werden“, meint Eleftheria. Die Bestrebungen, auch die kurdischen Streitkräfte in die neue syrische Armee einzugliedern, sieht sie skeptisch. „Bisher sind wir nicht dazu bereit, denn wir vertrauen der neuen Regierung nicht. Aber falls es doch dazu kommen sollte, dann müsste die YPJ unbedingt erhalten bleiben – um nicht nur kurdische Frauen, sondern alle syrischen Frauen zu beschützen.“
Eleftheria erzählt, wie sie in ar-Raqqa und Deir ez-Zor gegen IS-Schläferzellen gekämpft hatte – und danach in Manbidsch von der SNA angegriffen wurde. „Es handelte sich um einen Überraschungsangriff, wir mussten uns ordentlich zurückziehen, aber kamen unter heftigem Beschuss. Ich verlor ein Dutzend meiner Freund:innen dort, bevor wir es zurück nach Kobanê schafften“, erinnert sie sich. Dass die neue Regierung in Damaskus aus ehemaligen Kämpfern des IS und der Nusra Front (einem Ableger der Terrororganisation al-Qaida, Anm. d. R.) bestehe, und mit der islamistisch-geprägten SNA verbündet sei, bereite ihr große Sorgen – insbesondere im Hinblick auf die Grundrechte von Frauen und Minderheiten.
Diese Befürchtung teilt Newroz Resho, eine Journalistin aus Afrin, die nach der Eroberung der Stadt durch die SNA 2018 nach Kobanê fliehen musste. „In Afrin und Aleppo haben wir gesehen, wie die HTS und SNA uns Frauen behandelt haben, natürlich gibt es da Sorge, dass jetzt mit der neuen Regierung eine Art großes patriarchales Comeback kommt“, sagt sie. „Frauen haben während des gesamten Bürgerkrieges, 14 Jahre lang, in Rojava und in ganz Syrien für ihre Rechte gekämpft, manchmal auch mit Waffen in der Hand. Es darf nicht zu einer Unsichtbarmachung ihrer Bemühungen kommen, wie jetzt zum Beispiel in der neuen syrischen Verfassung, wo Frauenrechte kaum erwähnt werden“, fügt sie hinzu.
Die 34-Jährige sitzt mit ihrer Mutter auf dem Balkon ihrer Sozialwohnung, um sie herum Unmengen von Pflanzen. Sogar einen kleinen Ast ihres Olivenbaumes in Afrin, den sie auf der Flucht mitgenommen hatte, hat sie hier in Kobanê eingepflanzt. „Landwirtschaft ist Teil unsere Kultur, wir Afrinis lieben unsere Olivenbäume mehr als alles auf der Erde und wir müssen immer von Pflanzen umgeben sein. Außerdem fühlen wir uns als Frauen der Umwelt verbunden“, erklärt sie. „In Rojava bilden Frauen die Speerspitze der Freiheits- und Umweltbewegung. Viele Bauerntöchter haben studiert oder mitgekämpft. Hier hätte es ohne sie keine Revolution gegeben.“
Tatsächlich bilden Jineologie, die kurdischen Frauenwissenschaften, aber auch Umweltschutz das ideologische Rückgrat der kurdischen Autonomiebewegung in Nordostsyrien. Dessen Einwohner:innen wandten den von Öcalan formulierten „Demokratischen Konföderalismus“ konkret an und erlangten einige Erfolge – zum Beispiel die Einführung der Parität in allen Behörden der Autonomieverwaltung sowie die Gründung kommunaler Pflanzen- und Samengärten, um die lokale Landwirtschaft zu unterstützen. Doch in ganz Rojava gerieten die Umwelt- und Infrastrukturprojekte der Behörden vor dem Waffenstillstand immer wieder unter Beschuss türkischer Kampfjets. Die Errungenschaften bleiben gefährdet, durch Korruption, Krisen und Krieg.

Auch etwa 230 Kilometer östlich von Kobanê werden die Ideen der kurdischen Frauen- und Umweltrevolution gelebt. Inmitten einer kargen Stein- und Sandlandschaft, wo Ölraffinerien und Bohrlöcher für das wirtschaftliche Überleben der Autonomiebehörde sorgen und schwarzen Rauch in den klaren Himmel steigen lassen, befindet sich Jinwar, das Frauendorf. Ein kleiner kreisförmiger Ort in der Nähe von Qamischli, dessen Häuser mit roten Kuppeln verziert sind. Jinwar gilt seit 2019 als ein soziales und politisches Experiment – ein Ort komplett ohne Männer. Zwar ist es nicht ganz von der Außenwelt abgeschnitten, doch die Frauen hier leben weitgehend autonom und selbstversorgend.
„Bevor ich hierherkam, war ich verloren in der Welt, und wusste nicht wohin mit mir, ich fühlte mich schwach“, erzählt Delal Hadji Omar, eine 33-jährige Jesidin aus dem irakischen Sindschar. Seit fünf Jahren lebt sie hier und ist seitdem für die Klinik des Dorfes verantwortlich. „Hier habe ich vieles gelernt: Brot backen, Landwirtschaft, Heilkunde – und vor allem, meine Stärke als Frau. Ich bin hier quasi neugeboren“, sagt sie mit emotionaler Stimme. Wie viele Jesidinnen und Jesiden floh sie nach dem brutalen Angriff des IS auf Sindschar und entging dadurch dem nachfolgenden Völkermord.
In Rojava regieren die religiösen und ethnischen Minderheiten – Christ:innen, Araber:innen, Jesid:innen und Kurd:innen – gemeinsam, dem Grundgedanken des demokratischen Föderalismus entsprechend, doch natürlich nicht ohne gelegentlichen Streit. Wie das nun unter der neuen Regierung Ahmed al-Scharaas werden wird, bereitet vielen Sorge – die Massaker an den alevitischen und drusischen Gemeinschaften Syriens in den letzten Monaten haben längst den Optimismus nach dem Sturz Assads gedämpft. „Es ist klar, dass die HTS uns so nicht akzeptieren werden. Wir sind jedenfalls dazu bereit, Jinwar und ganz Rojava mit Waffen zu verteidigen“, bekräftigt Schirin Ahmed, eine junge Kurdin, die ebenfalls im Frauendorf lebt. Die Zukunft Rojavas als Experiment für Ökologie, Emanzipation der Frauen und Konföderalismus steht heute an einem Wendepunkt. Ob der Wunsch nach einem friedlichen Zusammenleben den Weg weisen wird – oder ob geopolitische und kommerzielle Machtverhältnisse das Experiment beenden werden, ist ungewiss.